WISSING-Interview: Ich verstehe Politik als Inklusionsauftrag, die Gesellschaft zusammenzuführen
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing gab der „Augsburger Allgemeinen“ und der „Augsburger Allgemeinen Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Michael Pohl:
Frage: Herr Minister Wissing, wie sehr reut es Sie, dass Sie aus Ihrem Etat wegen Ihres Amtsvorgängers Andreas Scheuer hohen Schadenersatz für die geplatzte Pkw-Maut zahlen müssen?
Wissing: 243 Millionen Euro sind eine bittere Summe. Das ist fast eine Viertelmilliarde Euro Steuergeld, das die Bürgerinnen und Bürger hart erarbeitet haben und das nun sinnlos als Schadenersatz gezahlt werden muss, weil ein Vertrag zu früh unterschrieben wurde. Das ist mehr als ärgerlich. Mit diesem Geld hätte man sehr viel Sinnvolles tun können, beispielsweise Investitionen in Innovationen oder in die Infrastruktur.
Frage: Klären Sie die Vorgänge in Ihrem Haus weiter auf, inwiefern Herr Scheuer verantwortlich für diesen Fehler ist? Werden Sie ihn in Regress nehmen?
Wissing: Der Untersuchungsausschuss hat bereits sehr viel ans Tageslicht befördert. Wir prüfen derzeit genau, welche Rechtsgrundlagen für generelle Regressansprüche bestehen. Bei der Größenordnung des angerichteten Schadens kann man das nicht einfach weglegen. Dazu sind wir den Steuerzahlern verpflichtet.
Frage: Manche befürworten eine entfernungsabhängige Maut, wenn angesichts vieler Elektroautos die Einnahmen über die Mineralölsteuer zurückgehen. Können Sie sich mit so einer Idee anfreunden?
Wissing: Wir sind auf ganz andere Dinge fokussiert. Heute geht es um die Frage, wie schaffen wir es, als Industrieland klimaneutral mobil zu sein? Wie schaffen wir es, unsere Lieferketten klimaneutral zu organisieren? Wie kann klimaneutrale Mobilität günstiger werden? Überlegungen, die das Autofahren zusätzlich verteuern, sind hier wenig hilfreich. Die Preise für Elektrofahrzeuge sind noch immer für viele Menschen zu teuer. Deswegen verfolgen wir einen konsequenten, technologieoffenen Ansatz, um so viel Wettbewerb wie möglich im Automobilmarkt zu halten: Wettbewerb sorgt für attraktive Verbraucherpreise. Dazu gehört auch der Wettbewerb verschiedener Antriebstechnologien.
Frage: Sie haben gegen das Verbrennerverbot der EU gekämpft und sind gegen ein Tempolimit. Damit gelten Sie bei Klimaschützern als der Buhmann in der Regierung …
Wissing: Ich bin immer wieder erstaunt, dass ausgerechnet diejenigen, die besonders große Anstrengungen im Klimaschutz einfordern, E-Fuels massiv infrage stellen. Es gibt keine Alternative zu synthetischen Kraftstoffen, wenn man die Bestandsflotte unserer Fahrzeuge klimaneutral machen will. Da höre ich von vielen ehrgeizigen Klimaschützern keinerlei Antworten. Und was Maßnahmen zum Erreichen der Klimaziele im Verkehr angeht, so haben wir zahlreiche Vorschläge gemacht. Einer davon ist meine Idee des Deutschlandtickets, das sich als großer Erfolg erweist. Wir haben inzwischen über eine Million neuer Kunden zusätzlich für den öffentlichen Personennahverkehr gewonnen. So etwas ist in einem so kurzen Zeitraum weltweit einmalig. Da wundere ich mich manchmal über den Vorwurf mangelnden klimapolitischen Ehrgeizes. Ein Verkehrsminister muss auf zwei Dinge achten: Zum einen, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen. Zum anderen, dass wir als Industriestandort in Deutschland mobil bleiben, dass unsere Logistik funktioniert und die Menschen ihren Arbeitsplatz erreichen. Güter müssen „just in time“ in die Fabriken geliefert, Produkte pünktlich in die Welt exportiert werden. Auch da geht es um unsere Zukunft.
Frage: Fühlen Sie sich ungerecht behandelt? Einem grünen Minister hätte man für das Deutschlandticket vermutlich ein Denkmal gesetzt …
Wissing: Ich bin nicht in die Politik gegangen, um mir Komplimente abzuholen. Aber man sollte die Fakten richtig darstellen. Wir haben binnen eineinhalb Jahren grundlegende Veränderungen für den Klimaschutz im Verkehr eingeleitet, und das in haushaltspolitisch schwierigen Zeiten. Wir haben ein Bahn-Sanierungskonzept begonnen, das seinesgleichen sucht. Wir sind bei der Ladeinfrastruktur weltweit ganz vorn dabei. Aber wir müssen darauf achten, dass die Bürgerinnen und Bürger mobil bleiben. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dies nur durch die Brille der Städte zu betrachten, sondern müssen auch den ländlichen Raum im Blick behalten. Und deswegen bin ich immer wieder erstaunt, dass so leichtfertig gesagt wird, das Auto sei überflüssig. Ist es nicht. Und das wird es auch nicht werden. Im Übrigen ist es in einer freien Gesellschaft so, dass die Bürgerinnen und Bürger frei wählen sollen, wie sie sich bewegen, und nicht der Staat ihnen Mobilitätsangebote zuweist. Es gibt Menschen, die verlangen von mir, eine Politik gegen das Auto zu machen. Wir haben gerade in der Debatte um das Heizungsgesetz gesehen, wohin so etwas führt. Sehr viele Menschen schrecken auf, wenn sie das Gefühl haben, der Staat greift über Gebühr in ihren Lebensalltag ein. Ein solches Vorgehen hätte in der Verkehrspolitik ein Vielfaches der Konsequenzen, die wir im Streit um das Gebäudeenergiegesetz erlebt haben.
Frage: Trägt Ihre Partei nicht auch eine Mitverantwortung für das Debakel um das Heizungsgesetz?
Wissing: Das Problem beim Heizungsgesetz war, dass der Gesetzentwurf nicht bereits innerhalb der Koalition geeint war, als er im Kabinett vorlag, sondern dass dies in den Fraktionen erfolgen sollte. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Wir sollten Streitfragen im Kabinett zwischen den Koalitionspartnern klären und sie dann ins Parlament geben. Aber dieses Verfahren lag nicht an der FDP.
Frage: Warum wird die FDP dann als Blockierer wahrgenommen?
Wissing: Ich blockiere nichts. Im Gegenteil: Mir geht es darum, Lösungen voranzutreiben. Ich lese viel Widersprüchliches. Mal heißt es, die FDP setze sich zu wenig durch, mal heißt es, die FDP treibe alle anderen vor sich her, mal, sie sei ein Blockierer. In Wahrheit verfolgen wir eine klare liberale Politik: Wir wollen technologieoffen sein, wir wollen Marktwirtschaft, wir wollen bürgerliche Freiheiten schützen, wir wollen, dass die Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben möchten. Wir haben weder das Ziel, alles mitzumachen, noch das Ziel, alles zu blockieren, wir verfolgen unsere liberale Agenda. Die mag manche stören, aber wir unterscheiden uns eben in bestimmten Punkten von unseren Koalitionspartnern.
Frage: Kann die Ampel damit überhaupt ein gutes Bild abgeben?
Wissing: Ich war Minister in Rheinland-Pfalz und habe bereits seit 2016 in einer Ampelkoalition regiert. Damals haben wir uns gemeinsam mit SPD und Grünen gefragt: Was kann eigentlich eine Ampel, was keine andere Regierung kann? Und diese Koalition wurde wiedergewählt. Ich verstehe Politik als Inklusionsauftrag, die Gesellschaft zusammenzuführen. Unser Ziel muss sein, einen Weg zu finden, bei dem jeder sagen kann „okay, damit komme ich zurecht“. Diese Denkweise empfehle ich uns allen auch im Bund. Auf diese Weise ist auch das Deutschlandticket entstanden: günstig, sozial, klimafreundlich, unbürokratisch, digital, als Angebot für die Menschen.
Frage: Muss die Bahn aber nicht viel besser werden, damit dieses Angebot wirklich zum Umstieg auf die Schiene überzeugt?
Wissing: In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel zu wenig in den Zustand des Schienennetzes investiert, im Gegenteil: Meine Vorgänger ließen beispielsweise 75.000 Weichen rausreißen, um Kosten zu sparen, von denen uns heute viele fehlen. Der Versuch der Vorgängerregierung, die Bahn unter dem rollenden Rad zu sanieren und die maroden Kernstrecken im laufenden Betrieb zu erneuern, war nicht erfolgreich. Die Zahl der Baustellen hat nicht ab-, sondern zugenommen. Das Netz ist das Hauptproblem – nicht nur für hohe Unpünktlichkeit, sondern für viele daraus folgende kleine Probleme, die Reisende nerven: Wenn ein Zug wegen Verspätung nicht pünktlich in die Wartungshalle kommt, können oft Toiletten nicht geleert werden und dann hängt ein Schild „WC defekt“ an der Tür, obwohl gar nichts kaputt ist. Oder mancher ärgert sich, dass es nicht einmal eine Currywurst im Speisewagen gibt, weil der Halt für den Nachschub verpasst wurde. Wir haben deshalb ein Bahnsanierungsprogramm aufgelegt, das alles Bisherige übersteigt. Wir sperren für die Sanierung Streckenabschnitte für wenige Monate und erneuern sie komplett. Mit diesem Turbo-Verfahren lösen wir die Baustellen und alle damit verbundenen Probleme viel schneller. Das bedeutet im Fall der ersten groß angelegten Sanierung fünf Monate Schienenersatzverkehr, aber hinterher haben wir funktionierende Strecken, die uns in ganz Deutschland Luft verschaffen.
Frage: Wird es dann gelingen, mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern?
Wissing: Der Güterverkehr wird zunehmen auf der Straße und auf der Schiene. Laut den Verkehrsprognosen wird der Güterverkehr bis 2051 um insgesamt 46 Prozent wachsen. Auf der Schiene erwarten wir 33 Prozent mehr Güterverkehr. Das ist enorm viel. Im Augenblick kann die Schiene in ihrem heutigen Zustand gar nichts mehr zusätzlich aufnehmen. Deswegen ist das Sanierungsprogramm so wichtig. Aber parallel dazu werden wir auch ein Güterwachstum um 54 Prozent auf der Straße erleben. Das ist eine gigantische Menge. Wer diesen Güterverkehr bekämpfen würde, bekämpft das Wachstum Deutschlands. Das bedeutet Wohlstandsverluste. Und deswegen bekämpfe ich nicht das Wachstum im Güterverkehr, sondern schaue, dass wir die Verkehre klimaneutral hinbekommen. Wir brauchen auch weiter Investitionen in unsere Straßen, aber natürlich auch in klimaneutrale Antriebe. Der Güterverkehr macht ein Drittel der CO2-Emissionen im Verkehrsbereich aus. Aber die gute Nachricht ist, dass uns die Einsparung von Emissionen beispielsweise durch Wasserstoff- und E-Lkw gelingen wird. Das heißt also, trotz des zunehmenden Güterverkehrs haben wir gute Chancen, unsere Klimaziele 2045 zu erreichen.