WISSING-Gastbeitrag: Wie Europa seine Digitalpolitik neu erfinden muss
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing MdB schrieb für das „Handelsblatt“ (Freitag-Ausgabe) und „Handelsblatt Online“ den folgenden Gastbeitrag:
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing MdB schrieb für das „Handelsblatt“ (Freitag-Ausgabe) und „Handelsblatt Online“ den folgenden Gastbeitrag:
Die neue EU-Kommission steht vor großen Herausforderungen: Im Osten Europas setzt Russland seinen verbrecherischen Angriffskrieg fort, die Entwicklungen im Nahen Osten bleiben unvorhersehbar und das nach wie vor ungelöste Problem der illegalen Migration verursacht seinerseits den Aufstieg von Populisten und Rechtsextremen. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass Europa noch eine ganz andere Herausforderung zu meistern hat, will es vermeiden, dass die Wurzeln seines Wohlstands vertrocknen. Das ist die Steigerung unserer Wettbewerbsfähigkeit durch Transformation der europäischen Wirtschaft hin zu einer datenbasierten Wertschöpfung.
In der Vergangenheit waren wir bei der Digitalpolitik sicher nicht untätig. Europa hat in weniger als zehn Jahren den Datenschutz verankert, Rechte und Pflichten von Onlineplattformen in Bezug auf die dort geteilten Inhalte geregelt, die Cybersicherheit gestärkt und Künstliche Intelligenz reguliert. Damit widerlegen wir alle, die wiederholt mahnen, dass „die Politik“ den wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen hinterherliefe. Um im Sprachbild zu bleiben: Eigentlich waren wir bei der Regulierung häufig vor der Welle. Und zwar so sehr, dass meine baltischen Amtskolleginnen und -kollegen und ich nun gemeinsam dafür plädieren, den Fokus stärker auf die Umsetzung und Evaluierung bestehender Digitalregeln zu legen und eine Phase der Konsolidierung der bestehenden Rechtsvorgaben einzuleiten.
Der Kanon an Regeln, Richtlinien, Maßgaben und Verordnungen hat bis heute nicht dazu geführt, dass der häufig geforderte „IT-Airbus“ fliegt, denn wir haben nie die Frage beantwortet, was dieser leisten soll: Vor einigen Jahren sollte es ein soziales Netzwerk sein, dann ein europäischer Bezahldienst und mittlerweile ein großes Sprachmodell entlang europäischer Werte. Nur, keine dieser Visionen bekam je das entsprechende Fundament.
Viele der Regeln, die unsere digitale Wirtschaft bestimmen, haben einen defensiven Charakter. Es wird verboten, eingeschränkt, verpflichtet und ermahnt; flankiert von öffentlichen Debatten, die keine Lust auf digitales Wirtschaften machen. So werden wir im internationalen Wettbewerb nicht bestehen. Deutschland steht als treibende Kraft bereit, das zu ändern. Der Innovationsklub bestehend aus Deutschland, Estland, Lettland und Litauen hat konkrete Vorschläge dazu gemacht. Unsere Initiative zeigt einen vielversprechenden Weg auf, wie Europa seine digitale Wettbewerbsfähigkeit stärken und gleichzeitig innovative Unternehmen fördern kann. Es liegt an der Kommission, diese Vorschläge konstruktiv aufzugreifen und umzusetzen und erfreulicherweise werden erste Ideen dazu schon sichtbar.
Im Weißbuch zur Zukunft der digitalen Infrastruktur wird Marktkonsolidierung als ein zentraler Entwicklungsschritt für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union genannt. Wenn Marktkonsolidierung richtig verstanden und angegangen wird, nämlich nicht im Sinne staatlicher Steuerung, sondern um Wachstum durch Innovationen zu ermöglichen und unverhältnismäßige Hemmnisse für Wachstum abzubauen, ist das ein konstruktiver Ansatz. Das Weißbuch geht in die richtige Richtung, springt aber in Bezug auf den Abbau unverhältnismäßiger Wachstumshürden zu kurz. Ich möchte an die gescheiterte Fusion von Siemens und Alstom erinnern. Das neue Unternehmen war für Europa zu groß, global hätte es aber die richtige Größe gehabt. Deshalb: Teile des Wettbewerbs- und Unternehmensrechts gehören auf den Prüfstand. Wir müssen den Maßstab ändern: Nicht mehr Europa, sondern die Welt sollte Bezugspunkt sein. Nichts anderes machen Microsoft, Google oder Amazon.
Zudem muss eine tatsächliche Vollendung des digitalen Binnenmarktes Priorität haben. Zu häufig werden europäische Regeln von nationalen Behörden sehr unterschiedlich ausgelegt. Dies führt – siehe Datenschutzgrundverordnung in Deutschland – zu einem Flickenteppich und verhindert, dass Unternehmen ihre Geschäftsideen in Europa skalieren können. Die zentrale Zuständigkeit der EU-Kommission für Regulierungsfragen der großen Plattformen ist ein erster Schritt zur Besserung. Ein echter Binnenmarkt und wettbewerbsfähige europäische Unternehmen machen auch Überlegungen zu einem „IT-Airbus“ obsolet. Wir haben eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur, innovative Unternehmen in allen Branchen, die KI einsetzen, die Effizienzgewinne von Cloudtechnologien nutzen und digitale Services verstärkt zu ihrem Kerngeschäft machen wollen. Wenn wir es ihnen erlauben zu wachsen, sich mit globalen Playern zu messen, und ihnen gleichzeitig einheitliche Binnenmarktregeln geben, dann haben wir nicht einen „IT-Airbus“, sondern die Flotte, die wir brauchen.