Volker Wissing: Rückzug aus Koalition wäre respektlos

Der nachfolgende Artikel erschien am 1. November 2024 als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

FDP-Minister Wissing: Rückzug aus Koalition wäre respektlos

 

Parteien stellen sich bei einer Bundestagswahl nicht einem allgemeinen Ideenwettbewerb der Politik, sondern bewerben sich um Regierungsverantwortung. SPD, Grüne und FDP wussten das, als sie 2021 antraten. Deshalb haben wir sofort begonnen, das anzupacken, was unter Angela Merkel und der Union jahrelang liegengeblieben war: Wir haben den Ausbau der Erneuerbaren Energien forciert, digitale Netze und Ladeinfrastruktur massiv ausgebaut, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt und, ganz wichtig: endlich die Sanierung von Bahn, Brücken und Straßen in Angriff genommen, die jahrzehntelang sträflich vernachlässigt worden war. Die Talbrücke Rahmede ist ein mahnendes Beispiel dafür.

All das war an sich schon eine gewaltige Aufgabe. Sie wurde noch größer, weil die Wählerinnen und Wähler in diesem Fall drei sehr unterschiedlichen Parteien das Angebot gemacht hatten, Deutschland gemeinsam zu modernisieren; drei Parteien, die im Bund noch nie zusammengearbeitet hatten. Dennoch haben wir das Angebot selbstbewusst und zuversichtlich angenommen. Das war die richtige Entscheidung, denn sie bietet allen Beteiligten die Möglichkeit, sich einzubringen und zu gestalten.

Doch seitdem haben Teile der Koalition immer wieder diskutiert, ob ihre Partei die Regierung nicht besser verlassen sollte. Welchen Grund sollte es dafür geben? Weil die anderen Parteien andere Überzeugungen haben? Das wäre ein albernes Argument, denn das wussten alle schon vorher.

Es geht um mehrheitsfähige Lösungen

Gerade die aktuelle politische Situation erfordert von den demokratischen Parteien, sich nicht nur darüber zu definieren, welche Positionen der anderen sie ablehnen. Politik darf sich nicht darauf reduzieren, andere Entscheidungen, Werte und Haltungen zu diskreditieren. Vielmehr muss es darum gehen, aus der eigenen Haltung heraus mehrheitsfähige Lösungen für die ganze Gesellschaft zu erarbeiten. Meinungsfreiheit ist nur geschützt, wenn man anderen Meinungen mit Respekt begegnet.

Dass in einer Koalition unterschiedliche Positionen vertreten werden, ist selbstverständlich. Pluralismus ist die Voraussetzung für Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger. Er ist kein Problem, sondern ein Glücksfall. In einer freien Gesellschaft muss man akzeptieren, dass andere Menschen anders abwägen und zu anderen Entscheidungen kommen.

Es ist fatal, wenn demokratische Parteien die Übernahme von Verantwortung verweigern, nur weil sie nicht allein entscheiden können. Unsere Parlamente haben bereits zu viele Parteien, die glauben, alles besser zu wissen und die zu keiner konstruktiven Zusammenarbeit mehr fähig sind. Diese Gruppe braucht keine Stärkung. Wie sollen mit dieser Haltung Mehrheiten gebildet werden? Wer kann so die notwendigen Kompromisse ausarbeiten, auf deren Grundlage gesellschaftlicher Zusammenhalt erst möglich wird?

Der Souverän hat drei Parteien beauftragt

Der Auftrag, den die Wählerinnen und Wähler uns erteilt haben, lautet nicht, hundert Prozent der jeweils eigenen Vorstellung umzusetzen. Er lautet viel mehr: Beteiligt euch, bringt euch mit euren Werten ein und seid ein konstruktiver Teil der Regierung, die insgesamt ein Mandat erhalten hat. Jetzt kann man sich über die Wähler ärgern, weil sie auch andere legitimiert haben. Man kann sich zurückziehen und sagen: Da mache ich nicht mehr mit. Doch das wäre respektlos. Die Bürgerinnen und Bürger haben jedes Recht, sozialdemokratische oder grüne Politik besser zu

finden als liberale (und jeweils umgekehrt). Sie sind der Souverän. Und der Souverän war in diesem Fall so frei, drei Parteien zu beauftragen. Er wollte nicht nur grüne Politik, er wollte nicht SPD oder CDU pur und auch nicht FDP pur. Er wollte eine Konstellation, in der unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Werten um gute Kompromisse für unser Land ringen und es voranbringen. Es sind die Bürger, die über die Möglichkeiten der Mehrheitsbildung entscheiden, nicht Politiker oder Parteitage.

Eine lebendige Demokratie verfolgt auch nicht das Ziel, einseitig Interessen gegen andere durchzusetzen. Im Mittelpunkt müssen immer die Menschen stehen. Sie erwarten, dass Probleme angepackt und gelöst werden und dass alle die Chance auf ein gutes Leben haben.

Regieren ist eine Dienstleistung. Und einen guten Dienstleister zeichnet aus, dass er nicht etwa erklärt, warum er einen Auftrag nicht weiter ausführen möchte, sondern dass er es schafft, auch unter schwierigen Bedingungen zu einem guten Ergebnis zu kommen. Der Ampel ist das vielfach sehr gut gelungen. Und ich bin sicher: Es kann ihr auch in den kommenden Monaten gut gelingen.

Wer von den eigenen Werten, vom gesellschaftlichen Mehrwert der eigenen politischen Idee überzeugt ist, will diese auch in die Gesellschaft einbringen. Das geht nur, wenn man bereit ist, Verantwortung zu tragen und in einer Regierung an Kompromissen mitzuarbeiten. Unser Land braucht nach jeder Wahl für vier Jahre eine stabile Bundesregierung. Das Grundgesetz fordert deshalb zu konsequent konstruktivem Handeln auf.

Koalitionen sind nicht einfach. Regieren ist nicht einfach. Demokratie ist nicht einfach. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass es gemeinsam gelingt.

Volker Wissing ist Bundestagsabgeordneter und Bundesminister für Digitales und Verkehr (FDP).