Bild am Sonntag Interview: Schienenbrücke in die Ukraine

Anstatt sich um die Verkehrswende in Deutschland zu kümmern, muss Wissing plötzlich dafür sorgen, dass Hilfsgüter aus Deutschland in der Ukraine ankommen, den deutschen Luftraum für russische Flugzeuge sperren und die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleisten. BILD am SONNTAG bei einem Minister im Krisenmodus.

Anstatt sich um die Verkehrswende in Deutschland zu kümmern, muss Wissing plötzlich dafür sorgen, dass Hilfsgüter aus Deutschland in der Ukraine ankommen, den deutschen Luftraum für russische Flugzeuge sperren und die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleisten. BILD am SONNTAG bei einem Minister im Krisenmodus.

BILD am SONNTAG: Herr Wissing, was können Sie als Verkehrsminister tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen?

Die Deutschen sind geschockt von dem Überfall Russlands auf die Ukraine und reagieren mit immensen Hilfsangeboten. Ich setze alles daran, dass diese Hilfen auch in die Ukraine kommen. Aktuell sammelt die Deutsche Bahn Hilfsgüter im großen Stil in ganz Deutschland bei den Produzenten und Großhändlern ein, die dann zu Containerzügen zusammengestellt und auf der Schiene in die Ukraine gefahren werden. Dafür hat die DB in kürzester Zeit ein Netzwerk mit den europäischen Bahnen geschaffen. Das Ganze soll keine einmalige Aktion sein, sondern wir errichten damit eine Schienenbrücke, die nachhaltig den Menschen in der Ukraine hilft.

Was ist mit den Menschen, die vor dem Krieg fliehen?

Die Lage an der polnisch-ukrainischen Grenze ist dramatisch. Hunderttausende kommen in der Grenzregion an, können aber kaum versorgt werden. Wir helfen Polen, Geflüchtete ins Landesinnere zu bringen. Die Deutsche Bahn ist hier mit Sonderzügen im Einsatz.

Was bedeutet der Krieg für die Versorgung?

Wissing: „In Polen arbeiten mehr als 100 000 Ukrainer im Logistik-Bereich. Ein großer Teil von ihnen hat gerade einen Einberufungsbefehl bekommen. Für Polen wird es eine Herkulesaufgabe, die Lieferketten stabil zu halten.“

Wird das auch für uns ein Problem?

Wenn ein so großes Land wie Russland mit so starken Sanktionen belegt wird, hat das Auswirkungen. Die Einschränkungen im Logistikbereich sind erheblich, auch für deutsche Unternehmen. Aber die Herausforderung, in dieser Situation die Lieferketten stabil zu halten, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in der Ukraine aktuell durchmachen müssen.

Was bedeutet die Sperrung des russischen Luftraums für uns?

Auch die Einschränkungen im Luftverkehr führen dazu, dass weniger Waren auf einmal transportiert werden können. Frachtmaschinen aus China müssen jetzt um Russland herumfliegen, das braucht mehr Kerosin, was wiederum den Flieger schwerer macht und den Spielraum für die Ladung verringert. In der Automobilindustrie hat das zu ersten Einschnitten in der Produktion geführt. Ich bin aber sehr dankbar, dass die gesamte deutsche Wirtschaft großes Verständnis für die Sanktionen hat und sie geschlossen mitträgt. Frieden und Freiheit sind wichtiger als wirtschaftliche Interessen.

Können Sie garantieren, dass die Deutschen nicht bald vor leeren Supermarktregalen stehen?

Die Versorgung mit Lebensmitteln und den Gegenständen, die es im Alltag braucht, ist gesichert. Die Supermarktregale sind voll und momentan deutet nichts darauf hin, dass sich das in den kommenden Monaten ändern wird. Es gibt keinen Anlass für Hamsterkäufe. Die Produkte, die uns Sorgen bereiten, sind keine Lebensmittel, sondern Industrieprodukte, also Rohstoffe und Ersatzteile.

Der Krieg wird Tanken, Heizen und Einkaufen noch einmal drastisch verteuern. Haben Sie Angst, dass die Solidarität dann bröckelt?

Nein. Die Geschlossenheit und Entschlossenheit in Deutschland und Europa ist beeindruckend und verleiht uns eine unglaubliche Stärke. Wir müssen jetzt alle weiter zusammenstehen. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft. Putin hat die freie Welt und liberale Demokratie herausgefordert und angegriffen. Wir müssen zeigen, was wir können. Unsere Gesellschaft ist stärker als Putins totalitäres Regime.

Wird es Entlastungen geben, um den Preisanstieg abzufangen?

Wenn neben dem bereits beschlossenen Entlastungspaket weitere Maßnahmen erforderlich sind, ist diese Regierung schnell handlungsfähig.

Was bedeutet der Krieg für die Energie- und Verkehrswende in Deutschland?

Wegen des Krieges ändern sich unsere innenpolitischen Ziele nicht. Die aktuelle Lage geht nicht zulasten unserer Energie- und Verkehrswende. Wir bleiben bei unserem Kurs, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral wird. Das gilt auch für die Automobilindustrie.

Wirtschaftsminister Habeck hat ins Gespräch gebracht, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen, falls es zu Lieferengpässen beim Gas kommt. Stimmen Sie ihm zu?

Die bisherige Zusammenarbeit mit Moskau im Energiesektor ist durch die russische Aggression grundlegend gestört. Wir werden aber nicht alle Strategien über den Haufen werfen. Es bleibt dabei: Wir streben Klimaneutralität an, auch im Automobilsektor.

Wäre es nicht klimafreundlicher, die verbleibenden Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen, anstatt die Laufzeiten der Kohlekraftwerke zu verlängern?

Nein. Man kann nicht alle vier Jahre grundlegende Entscheidungen in der Energiepolitik neu treffen. Deutschland hat den Atomausstieg mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Diesen Kurs müssen wir jetzt beibehalten.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen möchte die Ukraine in die EU aufnehmen. Eine gute Idee?

Wir sollten alles tun, um der Ukraine zu helfen, ein freiheitlich demokratischer Staat in unserer Werte-Gemeinschaft zu bleiben. Ein EU-Beitritt steht jetzt aktuell aber nicht an.

Nur Altkanzler Gerhard Schröder hält Putin die Treue. Sollte man seine Bezüge streichen oder zumindest einfrieren?

Ich habe null Verständnis für die Äußerungen von Gerhard Schröder zu Wladimir Putin. Seine Ansprüche kann man ihm in einem Rechtsstaat deshalb aber nicht aberkennen.

Das Gespräch führten Burkhard Uhlenbroich und Thomas Block.